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Veröffentlichung "Das System Putin"

Russland ist nicht die Sowjetunion. Russische Bürger können in ihr Land frei ein- und ausreisen. Sie verbringen ihren Urlaub nicht mehr in Erholungsheimen am Schwarzen Meer, sondern auf Kreta und in Davos; man trifft sie in Salt Lake City und Melbourne. Moskau ist nicht mehr die graue Stadt mit den breiten leeren Straßen, sondern eine boomende europäische Metropole, in der Designerläden und teuere Restaurants dazu einladen, den Kapitalismus zu zelebrieren. Die Erinnerung an den Arbeiter- und Bauernstaat wird in kleinen Dosen auf Hochglanzpostkarten mit Bildern aus der Zeit des sozialistischen Realismus verkauft. Was früher richtungsweisende Losung war, ist nunmehr billiges Souvenir. Nirgendwo hängen Spruchbänder, die die Erfolge Lenins, Macht und Stärke der kommunistischen Partei und die Größe des Sowjetvolks preisen.

Seit 1991 gibt es ein neues Russland.  

So scheint es. In Wirklichkeit ist hinter dem ersten neuen Russland der neunziger Jahre bereits ein zweites neues Russland entstanden. Auf die Jelzin-Jahre mit ihrer Experimentierfreudigkeit, Unberechenbarkeit, Offenheit, Streitfreudigkeit, mit ihrem Ausloten der Extreme folgte mit dem Beginn der Präsidentschaft Wladimir Putins eine nüchtern-pragmatische Rückorientierung auf einen „russischen Weg“, der unter dem Zeichen von Stabilitätssuche und Autoritätsgläubigkeit unverkennbar zu einer umfassenden Rezentra­lisierung der Macht und Verstaatlichung der Zivilgesellschaft führte. Die verlorenen Grenzen – insbesondere im Verhältnis Staat - Individuum – wurden wieder neu eingezeichnet, das aus dem Lot geratene Gesamtgefüge neu justiert.  

Im Gegensatz zu den Reformen zu Beginn der neunziger Jahre blieb nunmehr die Fassade aber unverändert, fanden keine grundlegenden institutionellen Neuerungen statt. Die in der Verfassung von 1993 proklamierten Ziele „Demokratie, Menschenrechte und Marktwirtschaft“ gelten weiterhin als Maßstab, auf den alles staatliche Denken und Handeln bezogen ist. Dennoch zeigen die Änderungen in allen Teilbereichen des gesellschaftlichen Lebens eine Rückorientierung auf Wertvorgaben und Organisationsformen der späten Breschnew-Zeit. Die Macht wird zentralisiert, informelle Netzwerke überlagern die von der Verfassung vorgesehenen Strukturen, geschriebenes Wort und gelebter Inhalt der Verfassung fallen auseinander, offizielle Verlautbarungen und private Bekenntnisse lassen sich nicht mehr zur Deckung bringen. Bei der Ausübung der Macht kehren patriarchalische Grundmuster wieder. Minderheitsmeinungen werden abgewertet oder stigmatisiert, Karikatur und Kritik sind unerwünscht. Gegenüber dem Ausland erfolgt eine ideelle Abschottung. Dem europäischen Marktplatz der Ideen werden die „russischen Werte“ entgegengestellt.  

Dieses zweite neue Russland ist Gegenstand des vorliegenden Buches.

Wer immer auf vergangene oder gegenwärtige Missstände in Russland verweist, setzt sich dem Vorwurf aus, kein „Patriot“ zu sein. Patriotismus ist der neue Orientierungsbegriff. Reformideen, die Entwicklung von Zielvorgaben und Zukunftsvisionen sind zwar erwünscht. Aber dahinter hat die kritiklose Liebe zum Vaterland zu stehen, zu den tief verwurzelten russischen Traditionen, die auch – das wird nicht in Abrede gestellt – das autokratische Regieren, die orthodoxe Religion, den Rechtsnihilismus und die obrigkeitsstaatliche politische Kultur umfassen – dies ist Gegenstand des ersten Kapitels.  

Diejenigen, die die Macht in Händen halten, verordnen Kritiklosigkeit und profitieren davon. Die auf dieser Grundlage entstehende „gelenkte Demokratie“ wird im zweiten Kapitel dargestellt. Auch die Justiz wird gesteuert, steht dabei allerdings im Spannungsfeld zwischen proklamierter Rechtsstaatlichkeit und dem Aufbau einer vertikalen Struktur bei der Entscheidungsfindung. Das dritte Kapitel ist so den Besonderheiten einer „gelenkten Justiz“ und damit Reformen, die keine wirklichen Veränderungen bewirken sollen, gewidmet.  

Das Ideal eines kritiklosen Patriotismus ist auch der Schlüssel zum Verständnis der Haltung der Mehrheit der russischen Bürger zu den großen Prozessen der letzten Jahre, die sich aus der Außenperspektive als politisch motiviert darstellen. Gleich ob es um die Verurteilung der „Oligarchen“ Wladimir Gussinski und Michail Chodorkowski, der angeblichen Spione Grigori Pasko, Walentin Danilow und Igor Sutjagin oder der Kulturschaffenden und Organisatoren des Sacharow-Zentrums im Prozess „Vorsicht, Religion!“ geht, immer werden sie als Feinde, als Störenfriede gesehen und ausgegrenzt. Wer Russland liebt, so ist die Botschaft, muss ihrer Verurteilung zustimmen. Nur am Verfahren gegen den wegen Kriegsverbrechen in Tschetschenien angeklagten russischen Offizier Budanow scheiden sich die Geister. Hier ist nicht klar, wer Patriot ist, derjenige, der Budanow, wie etwa der russische Verteidigungsminister, als Schande für die russische Armee empfindet, oder derjenige, der ihn als „Held des Vaterlands“ verteidigt. Von diesen Gerichtsprozessen handelt das vierte Kapitel.  

Das neue Russland als Großmacht, als nach innen und außen wieder erstarkter Staat, wirft die Frage nach Alternativen zur „gelenkten Demokratie“ auf. Ist die Entwicklung zum „System Putin“ einer zwangsläufigen Gesetzmäßigkeit geschuldet, folgt nunmehr, wie in den letzten Jahren der Herrschaft Breschnews, eine Zeit der Erstarrung? Oder gibt es Ansätze zu einer dynamischen Weiterentwicklung, zu einer nicht nur formalen, sondern auf gemeinsamen Werten beruhenden Einbindung Russlands in ein modernes Europa? Müssen der Westen und der Osten des Kontinents Antipoden bleiben oder gibt es Zeichen, dass sie sich aufeinander zu bewegen? Mit dieser Frage befasst sich das letzte Kapitel.

Margareta Mommsen, Angelika Nußberger

Das System Putin. Gelenkte Demokratie und politische Justiz in Russland

München 2007